Das Sperl ist inzwischen mein Wohnzimmer geworden. Blöd nur, dass es vier Stunden Bahnfahrt von meinem Schlafzimmer entfernt liegt. Andererseits spare ich mir so die Stromkosten für die Leselampe. Ganz andererseits frage ich mich jeden Tag mehr, was all die fremden Leute eigentlich in meinem Wohnzimmer zu suchen haben. Schleicht’s Euch! (Schon passiert? Danke.)
Im Café Raimund in Wien
Früher war das Raimund ein Theater- und Künstlercafé, als es noch Künstler gab und nicht nur Influencer und andere Nervensägen. Hier wurden der Legende zufolge Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann entdeckt. Das stimmt schon, aber der Nebensatz „als sie sich einmal eine ganze Woche lang furchtbar betrunken haben“ wird meistens weggelassen, weil es sich so eben besser anhört. Die beiden Damen wurden später auch aus anderen Gründen berühmt, aber das ist eine andere Geschichte. Benannt ist das Café nach einem Schauspieler und Dramatiker, dessen Stücke angeblich die Werte des Biedermeier vertreten, namentlich Treue, Dankbarkeit, Maßhalten und Zufriedenheit, und die man deshalb damals wie heutzutage nur betrunken erträgt. Treue, Dankbarkeit und Zufriedenheit sind dennoch Eigenschaften, die man, ohne zum Biedermeier zu werden, im Café Raimund entwickeln kann, doch das Maßhalten, das sollte man sich abschminken, wenn man nicht gerade ein Fitness-Influencer ist.
Im Café Crematorium in Wien
In diesem noch nahezu unbekannten Lokal gibt es nicht nur einen hervorragenden Cafè Crema, sondern auch die Möglichkeit, sich direkt nach dem durch Frittiertes, fettes Süßgebäck und Alkohol induzierten Herzkasperl in der Küche einäschern zu lassen. Die Urnenauswahl ist zwar begrenzt und sicher nicht jedermanns Geschmack, aber wo sonst kann man so angenehm aus dem Leben scheiden?
Im Café Goldegg in Wien
Im Café Hummel in Wien
Die Hummel geht am liebsten ins Café Hummel, das auch über die Josefstadt hinaus bekannt dafür ist, dass hier vor allem Fußball geschaut wird, was aber nicht heißt, dass man den Cafébetrieb nicht ebenso ernst nimmt. Wenn man noch zwei gesunde Haxn hat und gerne friert, kann man natürlich auch ins Stadion gehen, aber wer zeitlebens dem Frittierten gut zugesprochen hat, ist zwar gut isoliert, aber eben drum auch nicht so blöd, zwei Stunden in der Kälte auf kaputten Haxn rumzustehen. – Wer jetzt fragt, warum die Hummel Blau-Gelb trägt, statt wie üblich Schwarz-Gelb, der sollte nicht zu laut fragen, denn die Hummel ist freilich Anhängerin von First Vienna und nicht etwa von 1210 oder Post SV. – Oje, ich glaub, das hat sie gehört! First Vienna, hurra! Prost, Hummel!
Im Café Schopenhauer in Wien
Das Café Schopenhauer ist ein Zwitter: halb Café, halb Buchhandlung. Das verträgt sich ganz gut, denn das Lesen fördert den Appetit, weil dabei so viel Zeit vergeht, dass man, auch wenn man zum Frühstück gekommen ist, plötzlich auch ein Mittagessen, Kaffee und Kuchen und ein Abendmahl benötigt, das aber hoffentlich nicht das letzte ist, denn es gibt ja noch so viel zu lesen! – Mitten im Café stehen drei grünbefilzte Kartenspieltische, die eine Gruppe Pensionisten in Beschlag nimmt. Die alten Leute betragen sich in Erwartung kommender Freuden wie ein Rudel junge Hunde. Sie brauchen einige zehn Minuten, bis sie sich der zahlreichen Über- und Unterjacken entledigt, alle Taschen nach den unentbehrlichen medizinischen und konservatorischen Utensilien untersucht, Tische und Stühle ohrenzerfetzend an die richtige Stelle verschoben und dabei die Ereignisse der letzten hundertundfünfzig Jahre ausgiebig besprochen haben, bevor sie endlich sitzen. Dann spielen sie Karten und plappern. Die kleinen Pappen stecken sie aufrecht in den Spalt zwischen Filz und Tischkante, damit die Hände frei bleiben für diverse Tässchen, Gläschen und Gäbelchen. – Lesen ist überschätzt, das richtige Leben schreibt doch die besten Geschichten.
Terry Gilliam in Wien
Im Café Jelinek in Wien
Welche Farbe die Tapeten im Café Jelinek einmal hatten, ist nach ungefähr 1000 Jahren Räucherung durch Pfeifentabak, Fritierdämpfe und schwere Gedanken nicht mehr zu erkennen. Vermutlich ist, was wie ein Muster unter der Patina aussieht, das Kräuseln der Zeit selbst, die wie Wellen am Gestade eines Ozeans ihre Spuren hinterlässt. Man muss nur Geduld haben, um die Zeit dabei beobachten zu können, also bleibt man einfach hocken und bestellt noch ein Achtel, oder besser ein Viertel. Ach was, Herr Ober, bringens doch bitte gleich die ganze Flasche.
Das Monster im Park
Zum Abschluss der Wienreise gibt es kein Café, sondern etwas Ernüchterndes: Einen der beiden Flaktürme im Augarten und einer von insgesamt sechs in Wien, die noch am Ende des Krieges völlig sinnlos von Zwangsarbeitern errichtet werden mussten. Bisher kannte ich den nur aus dem Brenner-Roman von Wolf Haas, aber nun stand ich zum ersten Mal tatsächlich davor und das monströse Betongebirge baute sich fünfzig Meter hoch und quasi unzerstörbar vor mir auf. Angesichts der Umstände seiner Errichtung verbietet sich der Gedanke, aber dennoch finde ich, dass es genau das wäre, was München verdient hätte und zwar das Hundertfache davon, denn nirgendwo wird häufiger daran erinnert, dass der A.H. „ja eigentlich ein Österreicher war“.
Im Café Landtmann in Wien
Dem Landtmann merkt man seine Nähe zum Burgtheater an, denn alles ist auch hier theatralisch. Hinein kommt man nur, indem man das Zirkuszelt vor dem Eingang durchquert, wo das Publikum, das sich selbst für die Attraktion hält, neben denen sitzt, die am ersten freien Tisch hängen bleiben oder einfach nur eine rauchen wollen. In den riesigen Innenraum, also die eigentliche Bühne, gelangt man nur, wenn es der Regisseur, also der Oberkellner, gestattet, andernfalls wird man in einem Nebenraum platziert, wo man nicht unangenehm auffällt. Man merkt bald, dass das Stück, wenn auch mit wechselnder Besetzung, schon so oft gespielt worden ist, dass nur eine Neubesetzung noch ein wenig aufgeregt ist, während alle anderen halt ihren Job machen. Professionell, aber auch ein wenig mechanisch. Das Landtmann hat auf jeden Fall Stil und Kaffee und Speisen sind hervorragend, aber ihm fehlt ein bissl der Charme, den nur ein schon in die Jahre gekommenes Kaffeehaus haben kann, wo man zwar ebenso professionell bedient wird, aber die Oberfläche durch eine etwas schmierige Patina veredelt wird, und wo es nichts macht, wenn man mal seinen Text vergisst.