Auf Ellis Island kann man im Museum gegen eine Gebühr von 10$ eine halbe Stunde lang in der Datenbank der Passagierlisten aller Schiffe, die Einwanderer hierhergebracht haben, nach Familienanghörigen suchen. Das hätten sich die Leute damals auch nicht träumen lassen, dass ihnen die bucklige Verwandtschaft, der sie mehr oder weniger glücklich entflohen waren, Jahrzehnte später noch auf den Fersen sein würde. Anders als die armen Schweine, die auf dieser Insel in Sichtweite der verlogenen grünen Dame teils für Monate auf die Erlaubnis warten mussten, das Boot nach Manhattan betreten zu dürfen, darf ich schon am frühen Abend wieder weg. Der Andrang ist aber so groß, dass die anlandenden Fähren nur einen kleinen Teil der Passagiere mitnehmen und ich eine Stunde lang inmitten einer Masse mit den Händen plappernder Italiener im Regen warten muss. Ein relativ authentisches Ellis-Island-Erlebnis also.
Währenddessen auf der anderen Seite des großen Teichs …
Eine Stunde nördlich von Montreal liegt ein kleiner See umgeben von Wald und tausenden weiteren kleinen Seen, die alle nicht sehr tief und nicht sehr kalt sind, aber groß genug für ein paar Zweibeiner, ein Kajak und eine Menge Viehzeug, das die Besucher aus der Stadt sehr exotisch findet und neugierig guten Tag sagt. Im Wasser tummeln sich kleine Fische, die mir ganz sacht den Sonnenbrand vom Rücken nagen – anscheinend schmecke ich noch gut. Auf dem Wasser tanzen die Wasserläufer, auf französisch ‚les danseuses‘. Ich würde ja gerne mittanzen, aber das würde die kleinen Fische vertreiben, also lasse ich es. Eine handtellergroße Libelle landet auf meinem Oberarm, offensichtlich werde ich als Rastplatz für tauglich befunden, ein Hirsch schaut neugierig aus dem Gebüsch, was da schon wieder los ist, der Biber aber lässt sich ungern beim Bäumefällen stören und macht das auch unmissverständlich klar. Als dann langsam der Tag zu Ende geht, hört man den Loon schreien. Er scheint sehr traurig zu sein, aber tatsächlich ruft er nur seine Gattin herbei: Das müsse sie sich ansehen! Leider sind dann auch die Mücken sehr begeistert über den so unerwartet reich gedeckten Abendbrottisch und laben sich dran.
Im Café Vollpension in Wien
In der MUK, der Musik- und Kunst-Privatuni der Stadt Wien findet man eine der Filialen des sogenannten Generationencafés, das alten Leuten mit geringer Pension Beschäftigung gibt und einen Zuverdienst erlaubt. Darum schmeckt der Kuchen wie bei Oma, wobei Leute, deren Oma auch das Teewasser hat anbrennen lassen, vermutlich lieber woanders hingehen würden. Dazu besteht hier aber wirklich kein Grund. Die Einrichtung des Cafés ist laut Selbstbeschreibung „Turbokitsch“. Ob das zutrifft, ist wohl Geschmacksache, aber keineswegs kitschig, sondern schön ist, dass kein Stuhl dem anderen gleicht. Das ist gut so, denn schließlich gilt das auch für die Menschen, die auf den Stühlen sitzen. Nur was den Kuchen betrifft, darf es morgen gerne das Gleiche sein. Und übermorgen auch.
Im Café Diglas in Wien
Das Diglas scheint immer sehr gut besucht zu sein. Man ist auf den Massenandrang aber gut vorbereitet und betreibt ein mechanisches Klavier, das die Wünsche des touristischen Publikums erfüllt, bevor sie noch geäußert werden und das, ohne mit den Augen zu rollen und einen urwienerischen Fluch zu nuscheln. Der Platzanweiser ist ein hagerer Riese, der den Überblick hat und darüber hinaus alle urwienerischen Flüche in zehn Sprachen nuscheln kann.
Im Café Ministerium in Wien
Im Café Ministerium gibt es alles, wofür man ins Kaffeehaus geht, vor allem Ruhe und Frieden. Um hineinzukommen, muss man keine Beziehungen haben und keinen Antrag stellen, das sollte man wissen. Aber auch wenn es unangenehm ist, es auszusprechen: Das Beste am Café Ministerium ist, dass man, wenn man drin ist, nicht das furchtbare Kriegsministerium sehen muss, das draußen breitbeinig am Ring herumlungert und jedem mit einer Tracht Augenprügel droht, der es schief anschaut. Darum: lieber ein Bier zuviel bestellen, damit man länger sitzen bleiben kann, aber nicht so viele Biere, dass man alles doppelt sieht, denn das wäre, weil man ja doch irgendwann wieder hinaus muss, nicht auszuhalten.
Im Café Naschkätzchen in Wien
Ob aus einer Katze noch einmal ein Kätzchen wird, hängt wohl vor allem davon ab, wie sie sich beträgt. Diese hier mag es lieber süß als salzig, aber gerne von allem ein bisschen. Ansonsten macht sie wie alle Katzen, was sie will. Kratzen tut sie aber nicht und bisher scheint auch noch nichts zu Bruch gegangen zu sein, doch darüber würden Felinophile eh hinwegsehen. Und weshalb das Café inzwischen im Tiefparterre liegt, ist jedem Katzenfreund klar, der gesehen hat, wie oft sich eine Katze im Kreis dreht, bis es endlich gemütlich ist. Hier ist es sehr gemütlich.
Im Café Frauenhuber in Wien
Vom Menschen wird ja behauptet, dass er sich mittels Stoffwechsel alle sieben Jahre erneuert und dann eigentlich nicht mehr derselbe ist. Wir haben dennoch das Gefühl, dass sich nichts Wesentliches ändert und das ist vermutlich am Ende auch gut so. Das Café Frauenhuber konnte schon seinen 200. Geburtstag feiern und dennoch hat man das Gefühl, dass sich seit Anbeginn nichts Wesentliches geändert hat, auch wenn das natürlich nicht stimmt – es ist eh niemand mehr am Leben, der es bezeugen könnte – und außer der Küche weiß sowieso niemand genau, wie schnell der Stoffwechsel eines Kaffeehauses ist. Wie immer ist auch das am Ende gut so, denn es gibt Dinge, die will man gar nicht wissen. Jedenfalls gilt das Café, obwohl es mehrmals die Persönlichkeit gewechselt hat, heute als das älteste durchgehend betriebene Kaffeehaus Wiens. Anders als bei den Leuten, die das von sich behaupten, ist es für das Lokal aber tatsächlich schon mindestens das zweite Leben, denn am selben Ort befand sich zuvor ein Restaurant, in dem angeblich Mozart und Beethoven persönlich musiziert haben sollen, wobei die beiden Herren bei genauerer Betrachtung in jedem Gebäude Wiens entweder gewohnt oder musiziert haben. Daran sieht man aber nun, dass Kaffeehäuser auch nur Menschen sind wie du und ich und vor Gefallsucht nicht gefeit.
Im Café Sperl in Wien
Als ich mich auf einen anderen Platz setze und erkläre, warum, erzählt die Frau Ober, dass die gesamte Fensterseite im Sommer aber neu gepolstert werde. Das Muster werde eigens dafür in Frankreich gewebt und müsse aus Denkmalschutzgründen aussehen wie das Original. Das ist zwar einerseits schön, aber dennoch schade, weil man momentan fast bis zum Nabel in dem durchgesessenen Polster versinkt und nach Schnitzel und Sperltorte erst recht nicht mehr hochkommt. Aber wer will das schon? So darf man hocken bleiben, bis das Lokal schließt und einem die Frau Ober hinaushilft.
Im Café Prückel in Wien
Wer auch immer das Café Prückel geplant und gebaut hat, muss sich gedacht haben: Der Mensch hat Bedürfnisse. Oben tut er was rein, unten muss es wieder raus. Darum ist der Gastraum oben und die Toiletten sind unten. Und damit der Mensch, auch wenn er oben des Guten zuviel hineingetan hat, trotzdem noch rechtzeitig nach unten kommt, bauen wir nicht nur eine Treppe, sondern gleich zwei, eine links herum und eine rechts herum, so ist für jeden was dabei. Ungeschickt ist aber, dass beide Treppen erst nach dem Gang durch ein Nadelöhr zu erreichen sind, denn der Abgang zu den Klos befindet sich mitten im Eingang zur Küche, so dass es gar nicht möglich ist, einem der vielen geschäftigen Ober nicht auf die Füße zu steigen oder ihm wenigstens im Weg herumzustehen. Vielleicht mochte der Architekt keine Ober oder keine Gäste oder überhaupt keine Menschen oder er gehörte zu denen, die immer bloß schnell auf einen Kleinen ins Kaffeehaus eilen und darum nie Zeit haben, die Pointe auch ordentlich zu Ende zu erzählen.